Leseprobe

"Prolog"

Sachsenhausen 21. 04. 1945. Es ist Nacht. Das Grollen näher kommenden Artilleriefeuers dröhnt durch das Lager, breitet sich zwischen den Zäunen aus und hallt auf dem Exerzierplatz wider. Die wenigen noch vorhandenen Scheiben der Baracken zittern. Dann ist es ruhig, vereinzelt ein Kindergeschrei, ein Ruf, sonst dumpfe Stille. Kein Mondlicht scheint, keine Laterne erhellt den Platz, nur ab und zu ein greller Blitz und dann wieder Kanonendonner.

Generaloberst der Waffen SS Dr. med. Kaim horcht in die Stille. Er, seit 1936 von Anfang an in Sachsenhausen dabei, weiss, dass hier Schluss ist. Gut, dass er seinen Plan vor langer Zeit gefasst hat. Eine einsame Entscheidung. Kaim ist hungrig. Aber jetzt am Ende würde er nichts mehr essen, nichts mehr trinken. Darm und Blase sollten leer sein, wenn es soweit war. Sein Blick führt über seinen Schreibtisch und bleibt am Bild des Führers hängen. Wohl zwanzigmal hat er ihn getroffen, hat die Magie erfahren, die Berufung und Entschlusskraft geradezu körperlich gespürt, die von Adolf Hitler ausgegangen war. Wenn es Momente in seinem Leben gab, für die es sich gelohnt hatte zu leben, dann waren es diese Begegnungen gewesen. Hierdurch hatte sein Leben Bedeutung erfahren. Und erst hier hatte er den tieferen Sinn seines Daseins erkannt. Seine Bestimmung. Und Kaim war in dem, was er tat, gut gewesen. Er war es, der den Visionen des Führers mit Sachsenhausen eine erste Entsprechung in der Realität gegeben hat. Nur durch Kaim war es dem Führer möglich gewesen, sein Ideal von der Vernichtung der Juden, der Asozialen, des unwerten Lebens überhaupt zu verwirklichen. Das war seine Empfehlung gewesen. Denn Sachsenhausen hatte allen gezeigt, dass die Idee des Nationalsozialismus von der Rassenhygiene Wirklichkeit werden konnte. Sachsenhausen hatte Modellcharakter und er hatte dieses Modell erdacht, gebaut und seine Funktionsweise dann über die Jahre perfektioniert. Das war sein Gesellenstück gewesen. Kaim war es, der mit seinen Versuchen den Weg aufgezeigt hatte, wie Menschenleben auch in großer Anzahl ohne große Belastung für die Kameraden der Einsatzkommandos effizient vernichtet werden konnten. Der Führer hatte die gesellschaftliche Akzeptanz für die Durchführung der zum Schutz der deutschen Rasse erforderlichen Maßnahmen geschaffen und er, Kaim, hatte dafür gesorgt, dass die Tötung als solche nicht als Tat zu verarbeiten war, sondern als Arbeit verrichtet werden konnte, so wie andere Arbeiten auch. Deshalb hatte der Führer ihn ausgewählt, ihm die Zukunft anvertraut. Was für ein Moment war das gewesen: „Kaim, Sie persönlich stehen mir dafür ein, dass das Reich werden kann, wenn die Zeit gekommen ist.“ Dieses Versprechen, das er gab, war zugleich Bestimmung und Motivation seines Lebens geworden. Und er hatte seine Sache gut gemacht. Sein Meisterstück. Kaim lächelte leise. Kein Opfer war vergebens, keine Folter ohne Resultat, kein Tod umsonst gewesen.  

Das Licht flackert. Kaim weiss, dass er sich beeilen muss. Er weiss auch, dass er sich keinen Fehler erlauben darf. Nicht jetzt am Ende einer großen Zeit, das auch sein Ende bedeuten wird, nicht aber das der Bewegung sein darf. Nicht nach all den Vorkehrungen, die er getroffen hat. Kaim steht auf, durchquert den Raum und gelangt in den kleinen Operationssaal der Krankenstation. Da liegen sie in einem Waschzuber auf dem Operationstisch: seine Jungs, Zwillinge, gerade drei Wochen alt, jeweils eingewickelt in eine dieser Lagerdecken. Er hatte lange Zeit darüber nachgedacht, wie die Information mit hinreichender Sicherheit das Kriegsende überdauern konnte. Dann war ihm die rettende Idee gekommen. Kaim erinnert sich genau an den Moment: Anlässlich einer Versuchsreihe war ihm bei einem der Häftlinge aufgefallen, dass dieser sich seinen Vor- und Zuname auf den Oberarm hatte tätowieren lassen. Der Mann hatte, wie er nicht müde wurde zu versichern, im 1. Weltkrieg an der Seite Deutschlands gekämpft und mit der Tätowierung sicherstellen wollen, dass er, wenn er fallen sollte, auch ohne Marke identifiziert werden konnte. Kaim hatte dem Mann diese Sorge mit Hinweis auf die ihm gegebene Lagernummer genommen und diesem dann den tätowierten Namen aus der Haut geschnitten. Damit war das Wie seiner Aufgabe geklärt, jetzt war es nur noch darum gegangen, wer Träger der Information sein konnte. Dr. Ley?  Ein guter Mann, sicher, aber nein, Kameraden schieden aus. Deren Überleben sei es hier im Lager, oder später, irgendwo in Kriegsgefangenschaft, war nicht wahrscheinlich genug, um Ihnen die Zukunft des Reichs anvertrauen zu können. Auch hatte Kaim Zweifel ob der charakterlichen Integrität seiner Offizierskameraden. Nicht ohne Grund hatte er seine eigentliche Berufung wie auch das wahre Ausmaß seines Tuns in all den Jahren für sich behalten. Nur ein Bauchgefühl, aber wer konnte schon wissen, was wirklich in den Köpfen seiner Kameraden vorging. Nein, mit einiger Gewissheit würden nur Kinder das Lager und die Zeit danach überleben. Die Menschen kümmerten sich um Kinder. Kinder wurden nicht getötet, jedenfalls dann nicht, wenn man sie nicht dem Feind zuordnete. Kinder wurden auch nicht verurteilt. Kinder durften leben. In Freiheit. Die Frage war nur, ob es tatsächlich eigener Kinder für seinen Plan bedurfte. Schließlich war das Lager voll von Säuglingen und Kleinkindern, die er hätte benutzen können. Aber letztlich war ihm klar geworden, dass nur deutschem Blut die Erfüllung seines Plans anvertraut werden durfte. Darauf, dass seine Nachkommen ohne die Führung vom Schlage eines Adolf Hitler würden auskommen müssen, durfte er keine Rücksicht nehmen. Das Schicksal hatte ihn dann, wie er fand, bestätigt, und ihm Zwillinge geschenkt. Zwillinge waren sicherer, sie erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass sein Plan aufgehen würde, da die Information geteilt und doch beisammen gehalten werden konnte. Zwillinge würden Zeit ihres Lebens Kontakt halten, mehr noch als andere Geschwisterpaare. Den Grund dafür wusste er nicht, aber auch seine Experimente hatten gezeigt, dass das was Zwillinge miteinander verband, stärker als alles andere war, was die Natur hergab, stärker noch als die Bindung zur Mutter. Die Mutter der Zwillinge. Kaim versuchte vergebens den Gedanken an seine Frau zu verdrängen. Sie war tot, schnell und sauber durch seine Hand gestorben. Gemeinsam hatten sie entschieden, in einer Welt ohne den Führer nicht leben zu wollen. Auch wollten sie den anrückenden Rotarmisten nicht zur Belustigung dienen, aufgehängt am Lagertor, ermordet, bespuckt und geschändet von all dem unwerten Leben hier im Lager. Dann lieber sterben hier und jetzt, von eigener Hand.  

Noch immer hält Kaims Blick an den Kindern fest. Den Säuglingen ist nichts als das Bestreben zu leben anzumerken, ein Antrieb, den Kaim selbst mit dem Tod seiner Frau endgültig verloren hatte. Kaim breitet einige Operationsinstrumente auf dem Tisch vor den Säuglingen aus. Es sind seine persönlichen Instrumente, ein Geschenk von Mengele: Skalpell, Zangen, Klammern und dergleichen, eingebunden in weichem Kalbsleder. Jetzt packt Kaim das Tätowierungs-Besteck aus. Kalter Stahl, tausendfach benutzt. Kaim nimmt eines der Babies. Einen Namen hat er für das Kind nicht. Namen würden andere den Kindern geben müssen. Für ihn sind sie Mittel zum Zweck und das einzige, was er für sie empfindet, ist Mitleid. Mitleid, dass sie lange Zeit in einer Welt ohne Ideale, ohne geistige Führung würden leben müssen. Tröstend für Kaim ist hier nur der Gedanke an die Funktion der Kinder, die sie dank ihm jetzt erhalten. Die ihrem Leben einen Sinn geben und letztlich auch ihm, Kaim, endgültig einen Platz in den Geschichtsbüchern verschaffen wird. Kaim atmet einige Male tief durch und versucht sich zu konzentrieren.

Er hätte nie gedacht, einmal eine Beschneidung vorzunehmen, noch dazu an seinen eigenen Kindern und jetzt wird er gleich zweimal schneiden. Aber es muss sein. Letztlich konnte er nicht sicher sein, dass der Mob seine Jungs verschonen würde. Also musste er sich etwas einfallen lassen, etwas zur Tarnung. So hatte er sich von dem Judenarzt im Lager zeigen lassen, wie beschnitten wird und hatte dann selbst ein paar von den Männern im Lager operiert, die nicht beschnitten waren, solange bis er sich sicher war, und jetzt steht er hier. Endlich fängt Kaim an.

Seine Hände wollen zittern, doch das lässt er nicht zu. Er greift nach dem Penis des Kleinen, setzt den kalten Stahl an und führt einen ersten Schnitt, als er hätte er nie etwas anderes gemacht. Kaim atmet erleichtert auf. Über das Gebrüll des Säuglings hinweg, vollendet er den Eingriff, versorgt die Wunde und legt das Kind zurück in den Waschzuber. Knapp vier Minuten waren vergangen. Alles in allem. Jetzt hatte auch der andere Säugling angefangen zu weinen. Konnte das sein? Konnte der eine den Schmerz und die Angst des anderen spüren? Ohne zu zögern nimmt Kaim den anderen Zwilling, zieht auch ihn aus und bereitet ihn für die Beschneidung vor. Der Führer hatte ihn ausgesucht und er hatte gut daran getan, ging es ihm durch den Kopf. Kaim würde nicht flüchten, er würde dem Führer vorangehen, aber bevor es soweit war, würde er seinen Plan erfüllen. Fünf Minuten später ist auch der zweite Zwilling beschnitten. Dabei ist Kaim sich der Ironie der Situation bewusst, dass ausgerechnet er seine eigenen Söhne beschnitten hatte. Nur amüsieren kann er sich darüber nicht. Dann wendet er sich wieder dem ersten Zwilling zu. Das Tätowieren hatte er nicht erst lernen müssen. ( ... )